Stachelbeeren
Sie steht im Prägarten ihrer Großmutter. Die Stachelbeeren lachen sie an. Der süßliche Geschmack und das saftige Fruchtfleisch. Sie kann sich erinnern, als sie immer davon naschte, während ihre Großmutter im Garten arbeitete. Der Schweiß stand der Großmutter auf der Stirn, während sie als Mädchen etwas verstohlen zwischen den Sträuchern hockte und die köstlichen Beeren aß.
Immer wenn sie heute den Namen dieser Frucht hört, muss sie an die Großmutter und deren Mutter und deren Mutter denken. Generationen von Frauen. Ganz weit zurück. Wie die Stacheln sie schmückten und schützten und ihnen zum Verhängnis wurden, niemand durfte ihr saftig-süßes Fruchtfleisch kosten.
Es ist nur der Name, der abschreckt, denn die Stacheln stechen nicht. Sie sind nur eine Attrappe. Es sind haarförmige Dornen, die harmlos für Menschen sind und sich wie ein Flaum auf der Zunge anfühlen. Doch sie schrecken ab. Die Stachelbeeren müssen sich wehren gegen Fressfeinde.
Sie nimmt eine Beere und ließ sie in ihren Mund fallen, genießt den speziellen Geschmack, der schwer zu beschreiben ist – süß - mit einem ganz eigenen Aroma. Sie ließ ihn sich auf der Zunge zergehen und streckt ihr Gesicht dabei der Sonne entgegen. Der alte Dachstuhl lacht finster zu ihr herüber und der Brunnen tropft immer noch. Wie schade, findet sie, dass sich manche vom Namen der Beere abschrecken lassen.
Sie sieht die Gesichter der Frauen, deren Falten von ihrer Trauer, ihrer Schuld, ihrer Überforderung berichten. Sie sieht ihre Körper, die sich schunden und keine Rast kannten. Sie sieht ihr Verwelken und Verdorren. Nichts mehr übrig vom saftig-süßen Fruchtfleisch, nur die Stacheln gibt es noch. Die kennt auch jeder. Deswegen traut sich auch keiner hin. Das Fruchtfleisch allerdings haben die wenigsten gekostet. Es ist das Innere der Frauen das verkümmerte, die Überlebensnot, die sie antrieb. Die Männer, die sie verließen und nichts vom süßen Geschmack wissen wollten. Sie ließen sich von den Stacheln abschrecken.
Doch das süßlich-frische Fruchtfleisch gibt es noch. Es bewohnt ihre Zellen und gedeiht jeden Sommer in neuer Fülle - bereit die Münder zu locken und sie mit ihrem Geschmack zu verzaubern.