Das Sterntalermädchen
Das Sterntalermädchen hatte seine Eltern verloren. Es hatte von ihnen gelernt, dass man immer gut zu den Menschen sein soll, helfen wo Hilfe benötigt wird, denn Gott würde es einem irgendwann danken und entlohnen. So lernte das Mädchen, dass es gab. Es half, wo es nur konnte, gab auch sein letztes Kleidchen her, aus reinem Herzen und in der Hoffnung, dass irgendwann alles besser werden würde.
Denn es sehnte sich nach Wärme, nach Liebe, nach Geborgenheit. Irgendwo da draußen muss es doch jemanden geben, der es sah. Der sah, was es nicht alles leistete und der es in den Arm nehmen würde und ihr ein Zuhause schenken würde. Ein Zuhause, in dem es sich sicher und wohl fühlt, in dem ein warmer Kamin darauf wartet, dass es sich vor ihm niederlässt und sich an seinem Feuer wärmt.
Es war Winter. Draußen bedeckte eine Schneelandschaft das letzte Fleckchen grün, das gestern noch zu sehen war. Die Asche im Kamin brennt schon lange nicht mehr. Das Mädchen kocht in seinem Topf einen Brei, den es zu Abend essen wollte. Es musste sich selbst versorgen, denn ihre Eltern waren nicht mehr da. Die waren auch arm gewesen und verlangten von dem Mädchen viel ab. Tage und Nächte musste es schuften, den Haushalt machen, putzen und schrubben bis ihre Finger ganz wund waren von dem vielen Arbeiten. Doch manches Mal nahm sich das Mädchen eine Auszeit von all den Arbeiten und schlich sich nach draußen zu den Schafen, die seine Eltern besaßen. Eins davon war ihr zum Freund geworden und es tröstete das Mädchen, wenn es wieder bitterlich weinte und schluchzte. Das Schaf spendete dem Mädchen Wärme, es durfte sich oft in seine weiche Wolle kuscheln und so übersah das Mädchen oft die Zeit und schlief ganz wohlig behütet bei der Herde ein.
Als es wieder einmal zu seinem Freund, dem Schaf, ging und freudige Stunden auf der Weide verbrachte, da übersah es ganz die Zeit und es überkam dem Mädchen auf einmal eine Angst. Rasch lief es nach Hause, wo es die Eltern tadelten. Es sei so ein verträumtes Ding, sagten sie und man könne nichts mit ihr anfangen. Faul sei sie auch noch dazu, was sollte nur aus so einem Mädchen werden. Das machte das Sterntalermädchen traurig und es weinte sich ganz alleine in den Schlaf.
Am nächsten Morgen waren seine Eltern fort. Kein Brief, kein Zettel, nicht einmal ein kleines Stückchen Papier war zu finden, auf das sie sonst kurz schrieben, wenn sie fort mussten. Da saß es nun, am Küchentisch, der Blick starr auf die hölzernen Furchen, die den Tisch zierten. Was soll es nun machen? Wie soll es bloß ohne die Eltern leben können? Da erinnerte es sich, was es bei ihnen gelernt hatte, anderen zu helfen, dass das irgendwann entlohnt werden würde. Also machte es sich dran und tat, was es gelernt hatte und was es auch gut konnte. Es half, wo es nur konnte. Es half den Menschen, kochte, putzte, beschenkte sie mit seinen Ratschlägen, denn das Mädchen besaß eine große Weisheit, die es von Geburt an in sich trug. Die Menschen wussten das und so kamen viele zu dem Mädchen und baten es um Hilfe, obwohl es noch so jung war. Es gab. Es gab auch noch ihr letztes Kleidungsstück her und so stand es eines Tages halb nackt und frierend draußen im Schnee und wartete drauf, dass funkelnde Sterne in seinen Schoß fliegen würden.
Es schaute verbittert in den Himmel, den Tränen nahe, doch da kam nichts. Warum fallen hier keine Sterne herab, fragte es sich ganz verbissen und schluchzend. So steht es doch geschrieben. „Gibst du, dann wird dir gegeben.“ Was ist denn damit? Ist das etwa alles nur eine dumme Lüge? Das Mädchen war zornig. Es war zornig auf sich, auf die Eltern, auf die Menschen da draußen und auf Gott. Und wie es so dasaß, da kam ihr auf einmal die Alte in den Sinn, die nah am Rande des Waldes eine kleine Hütte bewohnte und die die Menschen mieden. Das Mädchen wusste nicht warum, aber irgendetwas lockte es dorthin. Also machte es sich auf den Weg und stapfte das Schneefeld entlang zum Waldesrand.
Dort angekommen klopfte es an die Tür.
„Herein“, murmelte eine krächzende Stimme. Das Mädchen öffnete die Tür, die so laut knarrte, dass es kurz erschrak. Die Alte saß an einem Spinnrad und blickte kaum auf, als das Mädchen die Stube betrat.
„Bist du also doch gekommen?“, meinte die Alte. Das Mädchen starrte sie verwirrt an.
„Ja, dich meine ich. Schau nicht so, du bist doch nicht umsonst hergekommen.“
Das Mädchen stammelte etwas vor sich hin und drehte seine Füße von innen nach außen, den Blick auf den Boden gewandt.
„Komm, setz dich zu mir und sieh mir zu.“ Das Mädchen setzte sich auf den weißen wollenen Teppich, der zu den Füßen der Alten lag und sah ihr beim Spinnen zu.
„Du musst das lernen.“, sagte die Alte.
Das Mädchen fasste seinen Mut zusammen und brachte nun endlich einen Laut hervor.
„Ich dachte ich muss anderen Menschen helfen. Das ist das, was ich gelernt habe. Denn irgendwann werde ich dafür entlohnt werden und ganz reich sein.“
Da lachte die Alte laut auf. „Also so etwas habe ich noch nie gehört.“ Sie musste so laut lachen, dass ihr beinahe die Spule aus den faltigen Händen fiel.
„Was gibt es denn da zu lachen? Das habe ich von meinen Eltern gelernt, die werden schon wissen was richtig ist“, entgegnete das Mädchen etwas barsch.
Es fühlte sich ausgelacht und kam sich auf einmal ganz dumm vor.
„Die Menschen haben verlernt was wichtig und richtig ist. Die arbeiten und helfen, ist aber für die Katz.“
„Ach so…“ murmelte das Mädchen. „Na toll, dann war das ja alles umsonst. Was soll ich denn dann machen? Ich kann doch nichts Anderes. Habe nie etwas Anderes gelernt.“
„Hier gibt es nichts zu tun, sieh her!“, forderte die Alte das Mädchen auf.
Und das Mädchen sah hin. Es sah wie sich die Spule drehte und die Wolle von ihr in das Spinnrad gezogen wurde. Es sah die Wolle des Schafes, die dem Mädchen so oft Wärme spendete und es sah wieder das Drehen der Spule und fiel in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen wurde es von dem Gezwitscher der Vögel geweckt. Die Sonne schien durch das Fenster und ihre Strahlen neckten das zarte Gesicht des Mädchens. Ein Klirren kam aus der Küche, in der die Alte stand und etwas Warmes zum Essen für sie beide vorbereitete. Das Mädchen stand auf und nahm sich einen Stuhl, mit dem es sich an den Tisch setzte. Die Alte kam mit dem Topf herbei und beide aßen schweigsam ihr Essen. Das Mädchen sah sich in der Hütte um. Überall waren getrocknete Pflanzen und Pilze zu entdecken. In gläsernen Behältern oder verzierend an der Wand. Auch Federn eines Bundspechts und eines Eichelhähers fielen dem Mädchen ins Auge. Vasen, die handbemalt gelbe und blaue Frühlingsblumen abbildeten, das Spinnrad und viel Wolle. Hie und da in der Ecke Spinnennetze und auf der Fensterbank Nüsse offen liegen, vermutlich für die Vögel. In der Stube brannte ein Feuer, das scheinbar nie erlosch. Hatte es nicht gestern auch schon die ganze Zeit hell lodernd gebrannt? fragte sich das Mädchen.
„Ja, sieh dich nur um“ meinte die Alte auf einmal. „Es ist wichtig, dass du dich hier auskennst und jeden Winkel beleuchtest.“
Das Mädchen fand, dass die Alte in Rätsel sprach, doch irgendwie fühlte es sich hier in dieser Hütte trotzdem wohl. Und so sah es sich den ganzen Tag ganz genau in der Hütte um. Betrachtete jede Ecke und jeden Winkel, studierte sorgfältig alle Einzelheiten und blieb als sich der Tag dem Abend neigte vor dem Kaminfeuer stehen. Es hatte eine ganz eigene Wirkung, ja fast magische Anziehung auf das Mädchen und faszinierte es. Wie viel Kraft in ihm wohnte. Die Flammen tänzelten in orange-roten Tönen, wie Figuren, die schwungvoll ihre Kurven bewegten. Da entdeckte es auf einmal eine rote Rose in einer aus feinen Glas gemachten Vase über den Kamin stehen. Die durfte dem Mädchen wohl noch entgangen sein. Wie sie die Rose so betrachtete, da erinnerte es sich auf einmal.
Es erinnerte sich an diesen zarten Duft, der in sein Herz einströmte und den die Rose dem Mädchen einmal schenkte, als es sich auf einem Berg verlaufen hatte. Ganz ohne etwas dafür zu verlangen, tat sie das. Oder ohne den Wunsch irgendwann mal entlohnt zu werden dafür. Die Rose machte das von sich aus, weil es zu ihrem Wesen gehört. „Eigentlich macht sie nicht einmal was“, bemerkte das Mädchen, „sie ist einfach nur, das, was sie ist. Eine Rose.“
Die Alte beobachtete das Mädchen die ganze Zeit lang und grinste etwas vor sich hin, weiter ihren Teller auslöffelnd.
„Ich möchte auch wie die Rose sein.“, sagte das Mädchen. „Du bist es schon, Mädchen. Du bist es schon“, gab ihr die Alte zu Antwort.
Da füllten sich die Augen des Mädchens mit Tränen und es begriff zum ersten Mal, was die Alte wirklich meinte. In diesem Moment zog eine Sternschnuppe am Firmament vorbei und leuchtete hell und glitzernd auf.