Rapunzel geht
Rapunzel saß in ihrem Turm, weit oben, fern ab von der Welt. Es war kühl dort, draußen hörte sie die Krähen krächzen. Sie sah aus ihrem Fenster, das klein und vergittert war.
Die bösen Eltern hatten sie in den Turm gesperrt und da stand sie nun, kreidebleich. Ihr blondes Haar floss zart das weiße Gewand hinab. Wann kommt endlich der Prinz und befreit mich, dachte sie bei sich. Ich sehne mich nach seinem purpurroten Mantel, den er mir schützend um meine Schulter legt. Ja, das Rot war von ihr gewichen und sie lechzte nach den Lippen dieses Mannes, die ihr wieder Leben einhauchen würden.
Hoch oben an der Decke in einer verstaubten Ecke befand sich ein Spinnennetz, die Alte dort war ihre einzige Gesellschaft. Rapunzel schenkte ihr aber keine Aufmerksamkeit, sie tröstete sich mit den Gedanken an den Prinzen, der bald angeritten kommen soll. In der anderen Ecke sah sie plötzlich ihre Puppe aus Kindertagen liegen. Die Puppe mit dem schwarzen Haar und dem dunkelroten Kleidchen mit den weißen Knöpfen drauf, die von einem blauen Faden umrahmt wurden. Sie ging zu ihr hin und hob sie auf, betrachtete sie genau. Dabei vernahm sie eine Stimme: „Rapunzel, es ist Zeit, du bist nun bereit.“ Rapunzel runzelte irritiert die Stirn, sie verstand nicht ganz, was das Ganze zu bedeuten hatte.
Sie schritt im Raum hoch oben in dem Turm hin und her, das Krächzen der Krähen aus der Ferne vernehmend und hielt Halt vor dem Spinnennetz. Wie zauberhaft schön gewebt es ist, mit ganz feinen Fäden, jeder zirkulierend der Mitte folgend. Ein Sonnenstrahl schien durch das kleine vergitterte Fenster und berührte sanft das Netz. Die Spinne ruhte etwas links neben der Mitte. Auch sie betrachtete Rapunzel nun etwas genauer, das Schwarz ihres Körpers, die langen behaarten Beine. Ich möchte auch spinnen wie du, seufzte Rapunzel und wie aus dem Nichts fand sie auf einmal in der Mitte des Raumes ein Spinnrad stehen, mit einem Schemel, die beide sich auf einem roten Teppich befanden. Rapunzel war verwundert, doch freute sie sich zu tiefst und saß sich vor das Spinnrad hin. Sie begann zu spinnen, der Faden bereits in der Spindel eingelassen, spann sie und spann. Es kostete ein wenig Geduld bis sie das Handwerk beherrschte, doch es machte ihr Freude. Sie spann und sang und spann und sang so liebliche Lieder, dass kleine Kohlmeisen und eine Elster sich zu ihr ans Fenster gesellten und ihren Gesang munter lauschten. Immer wieder stach sie sich anfangs. Das Blut tropfte auf ihr weißes Kleid und färbte es ein. Es gefiel ihr. Zu den Kohlmeisen gesellte sich ein Rotkehlchen, ein Eichkätzchen, ein Spatz und andere Vögel hinzu. Sie stimmten ein in das Lied, das seine Kreise zog. Rapunzel freute sich über die neue Gesellschaft und tanzte im Raum umher. Danach saß sie sich wieder ans Spinnrad und spann Tage und Nächte. Am Ende hatte sie so viel Wolle, dass fast der ganze Raum damit gefüllt war. Sie legte sich hinein und es war wohlig warm dort drin.
Als sie so dalag und an die Decke starrte, fiel ihr wieder das Spinnennetz auf. Sie lächelte und sagte „Nun kann ich das auch wie du.“ Dabei kicherte sie etwas in sich hinein. Wie schön es doch wäre, einen Webstuhl zu haben, damit ich auch etwas aus der Wolle machen kann, dachte sie bei sich und ehe sie sich versehen konnte, stand in der Mitte des Raumes ein hölzerner Webstuhl. Erfreut sprang sie auf und machte sich gleich ans Werk. Sie webte. Sie webte Tage und Nächte. Sie webte Teppiche und Vorhänge, Untersetzer und einen Überhang für sich und ihr Raum füllte sich erneut mit Wärme. Wie sie so am Webstuhl saß und vor sich hin webte, schon müde von der ganzen Arbeit, versank sie in einem Traum.
Die Fäden unter ihr begannen sich zu bewegen und ein Eigenleben zu entwickeln und sie bemerkte wie der eine mit den anderen verbunden war. Sie versuchte sie zu entwirren, manche waren eng verknotet, doch es gelang ihr, sie wieder zu ordnen. Dann sah sie plötzlich einen goldenen Faden, der hell aufleuchtete. Das Gold glitzerte und zog Rapunzel in seinen Bann. Sie folgte den Faden und er führte sie zu der Spinne. Die Spinne verwandelte sich in ein altes Weib, das ebenfalls webend am Webstuhl saß.
„Was machst du da?“ fragte Rapunzel.